Jüdischer Friedhof

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Bild: R. Schmidt

Seit der Gründung der Stadt Holzminden trägt die Lutherkirchengemeinde die Verantwortung für den öffentlichen Friedhof der Stadt. Ursprünglich einmal um die Kirche herum gelegen,wurde er im Laufe der Geschichte mit Ausdehnung des Stadtgebietes und wachsender Bevölkerung mehrfach verlegt. Der christliche Friedhof war nicht der einzige. Seit Jahrhunderten gab es immer auch einen jüdischen Friedhof an wechselnden Orten. Es war ein bedeutsamer und denkwürdiger Schritt in der Stadtgeschichte, als im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts christlicher Stadtfriedhof und jüdischer Friedhof in einem gemeinsamen Areal an der Allersheimer Straße neu angelegt wurden. So nahe, wie man miteinander lebte, Haus an Haus, so nahe beieinander sollten auch die Toten ihre Ruhe finden. Und wo Menschen ihre Toten begraben, dort sind sie verwurzelt, dort haben sie schon im Leben ein Zuhause gefunden.

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Bild: R. Schmidt

So war es bis zu Beginn jener Schreckensherrschaft des sog. Dritten Reiches, welches dieses gewachsene, gute Verhältnis zwischen den Deutschen christlicher und jüdischer Herkunft gewaltsam auseinanderriß und das Leben der jüdischen Gemeinde völlig auslöschte. Nur einzelne kamen zurück aus den Konzentrationslagern. Fast alle sind umgekommen durch die Gewaltherrschaft des Naziregimes. Aber die grablos Gestorbenen haben in den Gedenksteinen des jüdischen Friedhofs aus früheren Jahrzehnten ein Mahnmal erhalten, das uns bis heute erinnert und die Zukunft bedenken läßt in der Aufarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit. Der Friedhof an der Allersheimer Straße ist alles andere als nur ein "Totenendlager" gestorbener Körper. So geschichtslos möchten viele heute den Tod und die Vergangenheit sehen. Aber die Toten werden immer noch ihre Geschichte haben mit den Lebenden, im Einzelschicksal wie im Leben der Völker. Die Kirchengemeinde versteht ihre Verantwortung für den Friedhof der Stadt Holzminden deshalb in der Weise, Stimme zu sein für alle jene, die gewaltsam ihr Grab hinnehmen mußten als Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter der Weltkriege, als in Gefangenschaft geborene und gestorbene Kinder oder an Hunger und Seuchen umgekommene Mütter, Söhne und Väter aus fast allen Nationen Europas, oft genug ohne Sarg, ohne Trauerfeier, ohne Hoffnung. Die meisten Schicksale bleiben im Dunkeln. Anfragen aus dem europäischen Ausland und der Sowjetunion mehren sich. Die Toten sind keineswegs vergessen. Mit den Lebenden nimmt die Kirchengemeinde Kontakt auf. Jährlich pflegt die Jugend der Luthergemeinde am Tag der Reichspogromnacht, dem 9. November, in der "Aktion jüdischer Friedhof" die Gräber des jüdischen Friedhofs und des unmittelbar sich anschließenden Gräberfeldes von 126 Kindern, Frauen und Männern russischer und polnischer Nationalität, die in den Gefangenenlagern für "Ostarbeiter" in der Region Holzminden während des Zweiten Weltkrieges den Tod fanden. Brücken sind geschlagen worden zur jüdischen Gemeinde und nach St. Petersburg und in die Ukraine. Um Brücken der Versöhnung geht es in der Dokumentation dessen, was im folgenden an Zahlen und Einzelschicksalen festgehalten ist.

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Bild: R. Schmidt

Im Sinne des "Gesetzes über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft (Gräbergesetz)" aus dem Jahr 1965 befinden sich auf dem Holzmindener Friedhof, verteilt auf mehrere Gräberfelder, etwa 500 Gräber von gefallenen Soldaten und von Zivilgefangenen aus Lagern beider Weltkriege. Die weitaus größte Gruppe mit 301 Toten ist die der russischen und polnischen Opfer aus Kriegsgefangenen- und Arbeitslagern. Etwa 50 Holzmindener jüdischen Glaubens gehören zu den grablosen Toten, deren Spur sich auf dem Weg der Deportation in die Vernichtungslager verliert. Die erste Beerdigung auf dem Jüdischen Friedhof ist datiert vom 8. Juli 1885, die letzte vom 8. Januar 1968. Von den etwa 120 Grabstellen gehören 16 Gräber zu russischen Zivilgefangenen jüdischen Glaubens, die in Holzmindener Lagern in den Jahren 1915 - 1918 verstorben sind.
 

(Anmerkung des Verfassers: Die Zahl lässt sich nicht genau angeben, da Kriegsopfer auch in Streulagen des Friedhofs beigesetzt wurden und bis in das Jahr 1971 Umbettungen vorgenommen wurden, um geschlossene Grabanlagen im Sinne des Gräbergesetzes zu schaffen. Nicht alle Angehörigen von Kriegsopfern haben dem zugestimmt. 453 Gräber wurden von der Landesregierung offiziell als Kriegsopfer im Sinne des Gräbergesetzes geführt. Sie verteilen sich auf fünf Grabanlagen: 114 Wehrmachtsangehörige 1914-18/1939-1944. 159 russische Kriegsgefangene 1918/19, 36 Bombenopfer der deutschen Zivilbevölkerung vom Angriff 3.4.45, 18 ungarische Staatsangehörige, 126 russische und polnische Staatsangehörige auf dem jüdischen Friedhof. Nach den Bestimmungen des Gräbergesetzes vom 1.Juli 1965 haben diese Gräber dauerndes Ruherecht und werden aus Mitteln der Landesregierung gepflegt.)

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Bild: R. Schmidt

Mit der Machtübernahme 1933 beginnt auch der Leidensweg der Holzmindener Juden, abrupt eingeleitet in der Aberkennung der Ehrenbürgerrechte, die der Kommerzienrat Albert Katzenstein kurz nach seinem noch ehrenvoll bedachten 70. Geburtstag hinnehmen mußte. In diese Anfangszeit des Dritten Reiches fällt wohl auch die Schändung des jüdischen Friedhofes durch fanatisierte Jugendliche, die Grabsteine umstießen und mit Kot beschmierten. Die von einer Salve aus einer Maschinenpistole verursachten Einschläge auf einem der Grabsteine zeigen bis heute den Haß, der noch lange nicht der Vergangenheit angehört. Auf die Jahre gesehen ist es wohl dem Schutzschild des damaligen Kirchenvorstandes und Pfarramtes der Luthergemeinde zu verdanken, daß die Anlage des jüdischen Friedhofes die Kriegsjahre recht unbeschadet überstanden hat. Dies bestätigt der Landesverband der jüdischen Gemeinden von Niedersachsen in einem Schreiben vom 7. März 1966, in dem es heißt: "Wir wissen, daß die Kirchengemeinde in der nationalsozialistischen Zeit sich immer um unseren Friedhof gekümmert hat und sind auch der Ansicht, daß als Folge der Nachbarschaft keine großen Zerstörungen vorgenommen wurden." Und doch spricht ein anderes Dokument für sich, in welchem die Bezirksstelle Nordwestdeutschland der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in Hamburg noch im November 1942 -dem Jahr der Wannsee-Beschlüsse zur "Endlösung der Judenfrage" - den Verkauf des jüdischen Friedhofes in Holzminden mit der Zustimmung anbietet, die Toten wohl auf dem Schiffswege nach Hamburg umzubetten, - ein für den jüdischen Glauben unvorstellbarer Gedanke, der nur aus der Not der Verfolgung verstehbar ist. Auch andernorts wurden die jüdischen Landesverbände von den Behörden zum Verkauf der Friedhöfe gedrängt, um den Grund und Boden "geordnet" in kommunalen Besitz übergehen zu lassen.

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Bild: R. Schmidt  

Jüdischer Friedhof V
Nicht eine Handvoll kehrte nach Kriegsende nach Holzminden zurück. Noch im Jahre 1968 wurden die fast unversehrten Mauern der Synagoge in der Oberbachstraße abgerissen und mußten einem Kaufhaus weichen. Einige Pfeilerreste und eine Gedenktafel im Durchgang des Katzensprungs erinnern daran, daß die "Endlösung" eines grausamen Regimes in Holzminden gründlich gelungen ist. Wenn das Leben in dieser Stadt wieder so offen wäre, daß jüdische Familien hierher kämen, heiraten und Kinder bekommen würden, Geschäfte eröffnen und arbeiten könnten, wenn Holzminden wieder einen Mazenbäcker hätte und eine Synagoge und jüdische Mitbürger ihre Toten wieder neben den christlichen Toten begraben würden — dann könnte Vergangenes vielleicht überwunden sein

(Aus: Zwangsarbeit für Landwirtschaft, Forsten und Industrie im Oberwesergebiet 1939-1945, Creydt, Detlef (Hg.) 256 S., 67 Abb., gebunden, o.J., ISBN 978-3-931656-04-1)

Wir danken dem Verlag Jörg Mitzkat, Holzminden für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Rüdiger Schmidt, 1995