Man soll für diese sterbenden Kinder nicht „noch viele Liter Milch der allgemeinen Ernährung entziehen", heißt es weiter, sondern sie schnell sterben lassen, oder aber sie als spätere Arbeitskräfte aufziehen. Man wird sagen müssen, daß auch die hohe Sterblichkeit der Säuglinge in Holzmindener Arbeitslagern durch mangelnde Fürsorge und Ernährung gewollt und herbeigeführt war. Der Ort des Begräbnisses auf dem Jüdischen Friedhof, abgelegen und getrennt von den anderen Gräberfeldern, spricht seine eigene Sprache, die man nur aus jener Zeit heraus verstehen kann.
Holzminden war zu Anfang des Krieges nahezu "judenfrei", so konnte man sich des Grundstückes bemächtigen, das der jüdischen Gemeinde gehört. Einen Rechtsvorgang über die Nutzung oder den Kauf des freien Friedhofsteils wird man in den Unterlagen der Stadtverwaltung sicher vergeblich suchen. Auf enteignetem Grund und Boden wurden die Lagertoten neben den Juden begraben. Polen, Russen, Juden und „Zigeuner" - als "Untermenschen" galten sie alle. Auch im Tod sollte noch gelten: "Untermensch zu Untermensch". Deshalb auch immer wieder die Anweisung an alle Dienststellen, auf Friedhöfen als Begräbnisort einen entlegenen Teil zu wählen und "gebührenden Abstand" zu schon bestehenden, d.h. deutschen Grabstellen zu wahren. Aus einem Rundschreiben der Gestapo Wilhelmshaven vom 18. Dezember 1942 zur Beerdigung von Ostarbeitern wird deutlich, welche menschenverachtenden Maßstäbe in den Landratsämtern und auch in Holzminden zur Geltung kamen und Anwendung fanden":
„1. Die Beerdigung eines ,Ostarbeiters' stellt lediglich eine gesundheitspolitische Maßnahme dar, so daß alle Vorbereitungen für die Beerdigung und diese selbst möglichst einfach und unter Vermeidung jeglichen Aufsehens in der Öffentlichkeit vorzunehmen ist.
2. Als Begräbnisplatz ist ein Ort an einer entlegenen Stelle des Friedhofs in gebührender Entfernung von deutschen Gräbern auszusuchen.
3. Eine Mitwirkung von Geistlichen bei der Beerdigung hat nicht stattzufinden, da die Beerdigung lediglich die Durchführung einer gesundheitspolizeilichen Maßnahme ist. Dementsprechend hat auch das Glockenläuten zu unterbleiben.
4. Es ist nicht erwünscht, daß außer etwa vorhandenen Verwandten und Arbeitskameraden andere Personen an der Bestattung teilnehmen."
Für die Bestattung polnischer Zivilarbeiter gilt: kein Pfarrer, keine polnische Sprache, also keine Trauerfeier, kein gesprochenes Gebet. Für die Bestattung von Leichen sowjetischer Kriegsgefangener galt die Richtlinie, auf einen Sarg zu verzichten und die Leiche "mit starkem Papier (möglichst Öl-, Teer- oder Asphaltpapier) oder sonst geeignetem Material vollständig einzuhüllen ... Bei gleichzeitigem Anfall mehrerer Leichen ist die Bestattung in einem Gemeinschaftsgrab vorzunehmen. Hierbei sind die Leichen nebeneinander (aber nicht übereinander) in der ortsüblichen Grabestiefe zu betten."
Diese Anweisungen erreichten nachweislich auch das Landratsamt Holzminden, so daß recht genaue Vorstellungen über Bedeutung und Bestattungsart russischer und polnischer Staatsangehöriger auf dem Jüdischen Friedhof in Holzminden gewonnen werden können. Die Lebenden brachte man um ihre Menschenwürde, die Toten um die Trauer ihrer Angehörigen und das Recht, beweint zu werden. Der Deutsche Bundestag hat mit Verabschiedung des Gräbergesetzes vom 1. Juli 1965 festgelegt, daß die Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft dauernd bestehen bleiben. Aber Gräber bleiben tot und nichtssagend, wenn wir uns nicht der Mühe der Erinnerung unterziehen, um der Nachwelt zu bezeugen, daß Erinnerung Versöhnung bedeutet - als schmerzvoller Prozeß der Umkehr und Menschwerdung.
(Aus: Zwangsarbeit für Landwirtschaft, Forsten und Industrie im Oberwesergebiet 1939-1945, Creydt, Detlef (Hg.) 256 S., 67 Abb., gebunden, o.J., ISBN 978-3-931656-04-1)
Wir danken dem Verlag Jörg Mitzkat, Holzminden für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.
Rüdiger Schmidt